Die Baugeschichte der Marktkirche (1)

von Bernd Gisevius

Das  Bauwerk,   wie    wir   es    heute    kennen,   ist    aus    dem im Dreißigjährigen Kriege errichteten »Urbau« erst nach und nach hervorgewachsen: Nahezu jede Generation hat sich im Laufe der inzwischen 375 Jahre, in denen die Gemeinde die Kirche nutzt, veranlasst gesehen, den Bau den jeweils neu entstehenden Bedürfnissen und den als zeitgemäß geltenden Vorstellungen anzupassen. Manchmal geschah dies mit einem bewunderungswürdigen Einfühlungsvermögen gegenüber der vorhandenen künstlerischen Substanz, in anderen Fällen ging man mit einer ebenso erstaunlichen Rücksichtslosigkeit vor.

Um heute den Entstehungsprozess der Kirche ins Bewusstsein zu rufen und verständlich zu machen, wird zunächst der »Urbau« vorgestellt und in seiner symbolischen Bedeutung erläutert. Die folgenden Abschnitte sollen nicht nur die jeweiligen Ver- änderungen beschreiben, sondern auch die Überlegungen aufzeigen, von denen man sich in den einzelnen Umbauphasen leiten ließ.
 

Während der große Turm die Form zeigt, die er – von den Fenstern abgesehen – noch heute hat, war der zweite Turm, der Dachreiter, deutlich kleiner, als wir ihn heute kennen. Der geringere Durchmesser des Dachreiters bewirkte einen etwas größeren Abstand zwischen den Türmen. Aus diesem Grunde war dort genug Raum, um den Anschluss des Kirchendaches an den großen Turm harmonischer zu gestalten, als dies heute der Fall ist. Auch gab es an dem Dachreiter noch keine Uhr; stattdessen war auf der Südseite des großen Turmeszum Rathaus hin eine Sonnenuhr angebracht. An jeder Langseite war nur ein Treppenhaus mit Eingangstür vorhanden. Sie trugen jedoch im Unterschied zu heute geschweifte Hauben und erschienen so als eigenständige Türme. Das damals schon mit Blei gedeckteDach hatte – anders als heute – überall den gleichen Neigungswinkel und bot ohne die erst spätererrichteten Gauben eine ruhige Flächevon monumentaler Wirkung, belebt allein durch »Ochsenaugen«, die kleinen, runden Dachfenster, von denenein aufmerksamer Betrachter heute noch zwei entdecken kann. Die dicht an dicht durchfensterten Seitenwände der Kirche liefen gerade durch bis knapp hinter das heutige »mittlere« Treppenhaus mit dem Sondereingang zur Berghauptmannsloge. Von dort aus bildete der Grundriss der Kirche nach Osten ein halbes Sechseck. Auf diese Weise ergab sich ein sozusagen »halbrunder« vieleckiger Altarraum, wie wir ihn aus den Kirchen des Mittelalters kennen. In der Altenauer Kirche, die nach dem Vorbild der Clausthaler Kirche erbaut worden ist, hat sich diese Form des Ostteils unverändert erhalten. Anders als dort gab es in Clausthal aber an der Stelle, wo sich am First die Dachflächen des Chores trafen, noch einen schlanken Dachreiter mit einer Wetterfahne.

Die Rippenstruktur des Bleidaches setzte sich über die Wände fort, denn die Bretter der Holzverkleidung waren senkrecht angebracht und die Fugen mit profilierten Deckleisten geschlossen. Das Holzwerk war vermutlich blau gestrichen; mit Sicherheit waren die Gesimse und Rahmen weiß abgesetzt. Die den Platz umgebenden Häuser hat man sich dazu als Fachwerkgebäude mit schwarzem oder grauem Gebälk und weißen Gefachen vorzustellen.

ZUR SYMBOLIK

Blau ist seit alters her die Symbolfarbe für Glauben und Offenbarung. So kennzeichnet der Farbanstrich  die  Kirche  als das besondere Zentrum, das sich die Bevölkerung mitten in ihre Alltagswelt (Markt, Wohnhäuser, Verwaltung) und deren »Schwarz-Weiß- Malerei« setzte.
Die Fünfzahl ist ein uraltes, mythisches Schutzsymbol gegen teuflische und andere böse Mächte. Daher behüten fünf Türme wie die Bollwerke »einer festen Burg« das Gotteshaus.
Die Vierecke der beiden Treppentürme verweisen auf das Paradies gewissermaßen als Vorform für das himmlische Jerusalem.
Die drei anderen Türme mit ihren Achtecken und den Laternen (als einem Licht und damit  »Erleuchtung«  spendenen  Element) symbolisieren Gott Vater, Sohn, und Heiligen Geist. 
Die Wetterfahnen, deren ursprüngliche Symbolbilder leider nicht überliefert sind, bilden dabei eine besonders sinnfällige Illustration zu Johannes 3,8 und veranschaulichen so ganz unmittelbar, dass diese Kirche dem Heiligen Geist gewidmet ist. 

DER INNENRAUM VON 1642

Die Zeichnung – rekonstruiert nach Befunden und Rechnungen – zeigt das Innere der Marktkirche mit dem Blick auf den Altar. Deutlich wird, dass die ersten Seitenemporen über den  Bankreihen ihre Form bis heute unverändert  bewahrt haben.  Auf der Nordseite (also im Bild links) gab es damals allerdings die Abtrennung und Verglasung für die Berghauptmannsloge noch nicht; die Empore war bis vorne offen. 
Die Außenwände des Gebäudes hinter den Emporen verliefen in der Flucht der heutigen inneren Eingangstür. Die dicht an dicht angeordneten Fenster dieser Außenwand bildeten eine lichtdurchstrahlte Glaswand, von der sich die  Emporenarchitektur in einer Art Gegenlichteffekt     wirkungsvoll     abhob.    Bei     der     Kirchenerweiterung von 1689 bis 1691 wurden die Außenwände seitlich hinausgeschoben und mit weniger Fenstern versehen. Daher wirken heute die Fensteröffnungen von 1642 nur noch als Raumteiler. Die dahinter damals neu entstandenen Logen – zur Zeit für den Gottesdienst ungenutzt – waren für die Clausthaler Ratsherren un ihre Familien bestimmt.

An der Stelle der 1689–91 eingebauten zweiten Empore zog sich die Wölbung des Innenraumes bis zur flachen Decke der ersten Empore hinunter. Das Gesimse, mit dem die Wölbung gegen die Emporenöffnung abschloss, bildet nun das Sockelprofil für die Brüstung der zweiten Empore.

Heute weist die Tonnendecke des Mittelschiffs nur noch fünf Reihen quadratischer Kassetten auf – ursprünglich waren es sieben.Das war ein Hinweis auf die siebenGaben des Heiligen Geistes(nach Jesaja). Die Quadrate der Kassetten sind ein altes Symbol für dasParadies. Die besondereBedeutung liegt in der Verknüpfung der beiden Symbole:


 

Die Emporstützen bilden mit der Deckenwölbung über dem inneren Raum der Kirche einen »Himmel« genanntes Baldachin, das als »Heiliges Land« verstanden wurde. Wie in Prozessionen bis zum heutigenTage über dem Allerheiligsten ein »Himmel« getragen wird, so bildet die gewölbte Kirchendecke als Symbol des Heiligen Geistes über der das Sakrament empfangenden Gemeinde ein schützendes Paradies.

Der Grundriss des Altarraumes war als halbes Sechseck gestaltet. Gegenüber dem Emporenteil der Kirche bildete er eine weite Halle. Der mit einer Halbkuppel überwölbte innere Raum wurde von einem Umgang umzogen. Dieser war flach gedeckt und hatte die Breite der Emporen. Seine Decke wurde von vier hohen Pfosten getragen

– Symbole der vier Evangelien. So entstand ein Hallenchor, der auf die Besucher und Besucherinnen eine überwältigende Wirkung gehabt haben muss. Die Wandsegmente enthielten große Fenstergruppen, vor denen sich links die Kanzel, in der Mitte der Altar und rechts der Taufstein silhouttenartig abhoben.

Der künstlerische Raumeindruck wurde dadurch gesteigert, dass das Mittelschiff von Bänken ganz frei blieb. Der Boden dort war mit kostbar gearbeiteten Grabplatten ausgelegt, von denen einige heute hinter dem Altar zu sehen sind.

Das ansteigend angeordnete Gestühl stand (zu einzelnen Logen mit eigenen Türen zusammengefasst) unter und auf den Emporen. Es zeigte nicht zum Altar, sondern war auf das Mittelschiff ausgerichtet.

Alle Ausstattungsstücke waren ebenso wie der gesamte Raum noch nicht farbig gestrichen, sondern holzsichtig behandelt. Die Holzflächen hatten ungefähr den Farbton des heutigen Orgelgehäuses. An den Emporen setzten schwarzbraun getönte Eichenholzschnitzereien besondere Akzente.

 

DIE ORGEL VON 1642 BIS 1689

 


 

 

Die Zeichnung zeigt – rekonstruiert nach Befunden, schriftlichen Quellen und zeit- genössischen Vergleichsobjekten – den Innenraum der Kirche in Blickrichtung auf den Turm, so dargestellt, wie ein Besucher die Kirche erlebte, wenn er unter dem großen Kronleuchter stand.


 

Zu sehen sind die Emporen in ihrer ursprünglichen Gestalt und die Orgel, die Andreas Weiss aus Meiningen 1642 dort errichtet hatte.

Seit dem Bau der Winterkirche 1974 sind die Säulen unter der Turmempore in gleicher Flucht mitden seitlichen Emporenpfeilern angeordnet. Ursprünglich standen sie zu diesen versetzt. Rund und aus Eichenholz geschnitzt setzten sie sich in Form und Farbe von den durchlaufenden Pfostenreihen der Seitenemporen ab. Aus diesem Grunde ordnet sie das Auge dem Orgelprospekt zu und es entstand eine Gesamtwirkung ähnlich wie bei den hochbeinigen Kabinettschränken der damaligen Zeit.

Durch die Veränderung 1974 ergibt sich heute die Wirkung einesumlaufenden Theater- balkons. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass man damals die Empor- brüstung um etwa ¾ m zum Altar hin vorgezogen hat.

Die Orgel besaß ein Rückpositiv, das heißt, dass eine Art kleiner »Extraorgel«, die vor der Emporenbrüstung angebracht war. Der Prospekt der »Hauptorgel« stand vor der Ebene, die heute von der Brüstung der zweiten Turmempore gebildet wird. Die Pfosten, die das Orgelwerk innen abstützten, sind noch vorhanden und seit 1689, als die Orgel hinter den Altar versetzt wurde, offensichtbar.

Die Wölbung des Mittelschiffs hört in dieser Zone plötzlich auf. An ihrer Stelle befindet sich im rückwärtigen Teil der Kirche eine Flachdecke. Der Sinn dieser heute unverständlich wirkenden Baugestaltung wird klar, wenn man sich den alten Orgel- prospekt hinzudenkt, der – noch unter der Wölbung stehend – den mittleren Bereich ausfüllte. In der Rückwand der Kirche sind Fenster so angebracht, dass der Blick aus dem Kirchenschiff an dem Orgelprospekt vorbei so auf sie fiel, dass das Ende der Wölbung wie ein offenes Tor wirkte. So entstandder Eindruck, als schwebe die

»Hauptorgel« vor einer runden Gloriole aus Himmelslicht, während das Rückpositiv an dieser Wirkung nicht teilhat, sondern von der »irdischen« Empore optisch gehalten wird.

»Gloria sei Dir gesungen mit Menschen- und mit Engelszungen …« Dieser Unterscheidung trägt die Prospektarchitektur Rechnung, in dem (ganz so, wie es auch die Zellerfelder Orgel zeigt) das Rückpositiv dem menschlichen und die Hauptorgel dem Engelsgesang zugeordnet wurde.

Dem entsprach der Figurenschmuck: Hierzu zählt der große Weihnachtsengel, der ursprünglich auf der Turmseite vor der Orgel hing, sowie die sechs Engel, die heute das Brustwerk des Orgelprospektes von 1758 hinter dem Altar schmücken.

1642 waren die beiden kleinsten von ihnen als Symbol für »die Menschen«insgesamt auf dem Rückpositiv platziert.

Sie sind nackt und deutlich als männlich und weiblich gekennzeichnet, sie sitzen, das heißt, dass sie auf keinenFall als schwebend oder fliegend zu deuten sind: Diese beiden stehen für Adam und Eva. Der mittelalterlichen Tradition folgend (Christus in der Vorhölle) wurden sie nach Karfreitag von Jesus aus der Hölle erlöst und nach Ostern in das Paradies geführt, um dort selbst als Engel zu leben und das Gotteslob zu singen.

Die vier stehenden Engel waren auf dem Hauptportal angebracht: Die beiden kleineren tragen ein einfachesHemd, die beidengrößeren Ober- und Untergewand. Dadurchsind sie zu zwei Gruppen abgestuft: Sie symbolisieren Cherubimund Seraphim und erinnern damit an Jesaja 6 und Hesekiel 10. Auf diese Weise wurde der Hauptprospekt dem


 

Sanktus aus der Liturgie zugeordnet. Die Erzengel als höchste Gruppewerden durch die größte und wirklich fliegende Figur, den Weihnachtsengel Gabriel, vertreten. Er war vor dem Hauptprospekt angeordnet, kam also gleichsam aus der hinter dem Prospekt auf- scheinenden Lichtgloriole hervor, die die Herrlichkeit Gottes des Herrn symbolisiert. Auf diese Weise wird einerseits sein Erscheinen nach Lukas 1, 26–38 und Lukas 2,9–14 ausgedrückt, andererseits wird so die gesamte Orgel der Gloria aus der Liturgie zugeordnet.

Die Ausformung eines »Orgelengels« als frei fliegende Figur ist in der Kunstgeschichte einzigartig. Hierfür gibt es aber nicht nur künstlerische und theologische Gründe, sondern auch eine praktische Ursache:Der Raum auf der Empore ist geradehoch genug, um die 5 m großen Pfeifen unterzubringen, wobei die zugehörigen Windladen schon unmittelbar auf den Fußboden gestellt werden mussten. Deshalb war für eine größere Standfigur kein Platz vorhanden.

 

DIE ABMESSUNGEN DES GEBÄUDES – SYMBOL FÜR DAS WIRKEN DES HEILIGEN GEISTES

Wie wurden die Abmessungen des Urbaues der Marktkirche damals festgelegt? Das zentimetergenaue Aufmaß der Kirche, das – finanziert durch die Stiftung Volkswagenwerk – Dipl.-Ing. Wolfram Kohlhaus in den Jahren 1985–86 im Zuge seiner Dissertation angefertigt hat, bot dem Autor die notwendigen Voraussetzungen, die Untersuchungen anzustellen, deren erste Ergebnisse in diesem Artikel vorgestellt werden.
Der Einstieg gelingt am leichtesten bei der Betrachtung der Zeichnung oben rechts, die einen Querschnitt durch das  Kirchenschiff wiedergibt: Dargestellt sind das Mittelschiff, die beiden Seitenschiffe mit der ersten Empore sowie die Form des Kirchendaches. Darüber hinaus ist die Silhouette des Altars in seiner ursprünglichen Form eingezeichnet. Die gestrichelten Linien zeigen den geometrischen Zusammenhang der Maße:

Vom Dachfirst entwickelt sich ein gleich- schenkliges Dreieck mit einem Öffnungswinkel von 30°. Wo es auf den Fußboden der Kirche trifft, gibt es die Breite des Mittelschiffes an. Von dort aus ist nach oben ein Quadrat gezogen und bestimmt die Höhe der Deckenwölbung. Ein von unten in das Quadrat einbeschriebenes gleichseitiges Dreieck bestimmt die Höhe des Altars und in seiner Fortsetzung die Größe der Kassetten an der Deckenwölbung.

Eine solche geometrische Figur wird Proportionsschlüssel genannt. Mit etwas Mühe lässt sie sich in der Aufrisszeichnung des Turms auf der linken Seite wiederfinden: Die Linievon H1 nach H2 bildetdie Grundlinie des Quadrates. Von dort entwickelt sich das 30°-Dreieck nach oben zum Punkt S, der die Spitze des Turms über dem Knauf angibt. Das gleichseitige Dreieck bestimmt mit seiner Spitze den Beginn der Bogenöffnungen in der Laterne, seine Fortsetzung bis zur oberen Quadratkante legt die Breite dieser Öffnungen fest.

Wenn man das 30°-Dreieck von H1–H2 nach unten entwickelt, dann erhält man die Höhe des Kirchenfußbodens im Altarraum. Vom Altarraum aus führen nicht nur Stufen nach unten, sondern der Boden fällt auch von der Stelle aus, an der der große Kronleuchter hängt, zum Turm hin ab.  (Die geometrische Analyse  dieses komplizierten Sach verhalts würde allerdings den Rahmen dieses Artikels sprengen).

Es sind weitere 30°-Linien eingezeichnet, durch die wichtige Maße bestimmt werden: Der Punkt E, der das Achteck-Maß der oberen Turmwände angibt, ist aus einem 30°- Dreieck, das vom Mittelpunkt des Quadrates und dessen oberem Eckpunkt A ausgeht, entwickelt. Vom Punkt E wiederum leitet sich das Grundrissquadrat des Turmes ab.
Die erste Zeichnung dieses Abschnittes zeigt, wie aus diesem Grundrissquadrat die Breite des Kirchengebäudes in Höhe der Dachbalken abgeleitet ist (G1–G2). Mit etwas Suchenist leicht herauszufinden, wie andere Maße des Kirchengebäudes  aus dem QuadratA1–H1–H2–A2 entwickelt sind. Die Entfernung WB zum Beispiel, gibt die Stärke der Balken an,  von denen die gewölbte Decke des Mittelschiffs gehalten wird.
Im gesamten Kirchengebäude gibt es nur ein einziges Maß, das zahlenmäßig festgelegt wurde. Es ist die Strecke H1–H2; sie beträgt vier Lachter (1 Lachter = 1,92 m, bergmännisches Maß). Das Verfahren, aus einem solchen Ausgangsmaß die übrigen Maße geometrisch abzuleiten, wurde in der abendländischen Kunst über Jahrtausende hin angewandt. Es sorgt – den Tonarten in der Musik verwandt – für die Harmonie der Gestaltung und ist allein mit Hilfe einer einfachen Schnur machbar. Sie dient in gespanntem Zustand als Lineal und, an einem Ende befestigt, als Zirkel. Zwischen diesen Maßverhältnissen und Bibelstellen, die sich auf den Heiligen Geist beziehen, bestehen enge Beziehungen.

Der in der Marktkirche verwendete Proportionsschlüssel kombiniert drei Winkel miteinander: 90°, 60° und 30°.  Alter Tradition entsprechend steht der rechte Winkel für Gott Vater, der 60°-Winkel steht für Jesus Christus, den Sohn. Es ist eine Besonderheit unserer Marktkirche, dass der 30°-Winkel und der Heilige Geist einander zugeordnet wurden. Der Proportionsschlüssel, aus dem das Kirchengebäude und die liturgische Ausstattung in ihren Maßen erwachsen, ist der Segen »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes« (Matthäus 28,19) durch Geometrie symbolisiert. Die Wahl dieser Winkel als Symbol der Trinität leuchtetohne weiteres als stimmig ein, wenn man bedenkt, dass die Summe  der drei Winkel eine gerade Linie ergibt. Mit etwas Gespür für Geometrie und Symbolsprache lassen sich tiefgreifende Meditationen anstellen über den Sachverhalt, den die Kirche mit dem Ausdruck dreieiniger Gott meint. Die Summe von 30° und 60° ist 90°. Die Tatsache, dass der rechte Winkel 3×30° ist, verweist auf 1. Mose 1,2 und Johannes 1,1.

Die Symbolbedeutung der Geometrie als Verfahren für die Festlegung der Maße ist in Johannes 1, 1–3 begründet: »Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort«. Im griechischen Urtext steht λόγος, das Logische, der Kern der reinen Logik. Die Wissenschaft, die sich mit der reinen Logik beschäftigt, ist die Mathematik; die Geometrie ist ein Teil davon. Indem die Maßverhältnisse des Gebäudes der Geometrie folgen, wird seine Substanz auf eine sehr buchstäbliche Weise vom Geist Gottes durchdrungen und gewinnt den Charakter des Heiligen. Das Vorgehen bei der Bemessung der Marktkirche weicht in zwei Punkten von der sonst bei Gebäuden üblichen Art ab.

  1. Als Ausgangsmaß dient sowohl der Turm als auch beim Kirchenschiff nichtdie Länge der Schwellbalken, sondern die Länge der Dachbalken. Das Ausgangsmaß wird also nicht von unten nach oben, sondernvon oben nach unten entwickelt, und nicht von der Breite des Baukörpers aus, sondern vom Dachüberstand her.
  2. Als Ausgangsfigur für den Proportionsschlüssel wird anstatt des üblicherweise gebräuchlichen Quadrates oder des gleichseitigen Dreieckes das 30°-Dreieck benutzt. Das Ausgangsmaß bildet seine Grundseite.

Der ungewöhnliche Ort, der das Ausgangsmaß bestimmt, hat einen symbolischen Bezug zur Schöpfungsgeschichte: Im Dachbalken geortet, »schwebt« es gewissermaßen über dem Gebäude und erinnert so an Mose 1,2, »… der Geist Gottes schwebte auf den Wassern«. Es liegt also schon in dieser gestalterischen Entscheidung ein Gleichnis für den Heiligen Geist und für die Widmung der Kirche an ihn verborgen. Dafür nahm man beträchtliche technische Nachteile beim Bau des Gebäudes in Kauf, zum Beispiel beim Einmessen der Baugrube für das Fundament und bei der Zimmerarbeit auf dem Reißboden.

Die Zahl von vier Lachtern ist ebenfalls bedeutungsvoll: Die Vier gilt seit den Zeiten des Philosophen Pythagoras als heilig und wird in der christlichen Kunst in der Regel mit Gott Vater und dem Paradies verknüpft. Von den vier Lachtern geht das 30°-Dreieck (Heiliger Geist) aus, das die Höhe des Turmes und in weiteren Ableitungsschritten alle weiteren Maße des Kirchengebäudes festlegt. Symbolisch gesprochen ist es der Heilige Geist, der in unserer Marktkirche alles maßgeblich bestimmt.
Beim Bau des Tiefen Georgstollens haben spätere Generationen das Gleichnis noch vertieft: Obwohl ein Umweg und das Arbeiten in schlechteren geologischen Formationen damit verknüpft war, legten sie den Stollen so an, dass er genau unter der Kirche verläuft. Sie schafften so ein beeindruckendes Sinnbild für den Satz aus der Schöpfungsgeschichte: »… und es war finster auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.«

DIE GLIEDERUNG DES KIRCHENRAUMES

Sie setzt als Steigerung die Symbolidee fort, die zunächst schon einmal durch die Platzierung der Kirche im Zentrum des Marktes verwirklicht worden war. Der Marktplatz war der Ort für die materielle Versorgung der Bevölkerung. Er wurde von den Amtsgebäuden als einem schützenden Rahmen umgeben: Amtshaus (Landesbergamt), Wohnhaus des Oberbergmeisters Illing (Stifter der Ausstattung der Marktkirche), Rathaus, Apotheke, Pastorenhäuser, Wohnhaus des Zehntners Berward, Bergschule (beide auf der Seite des Hauptgebäudes der Technischen Universität Clausthal). Diese Gebäude waren der Wirkungsort der von Gott eingesetzten Obrigkeit: In der dritten Strophe des Oberharzer Bergmannsliedes heißt es: »… Drum preist das werteste Bemühn von unsrer Obrigkeit, die für uns sorgt und fernerhin zu sorgen ist bereit.« Diese Obrigkeit gab die für das Gemeinschaftsleben notwendigen Regeln vor und setzte sie durch.

Das Kirchengebäude im Zentrum des Marktplatzes wurde dem HeiligenGeist gewidmet, der der Geist der Wahrheit ist (Lied 136 im Gesangbuch). So wurde ausgedrückt, dass die Wahrheitserkenntnis die innere Voraussetzung für die Befriedigung aller Lebensbedürfnisse ist.

Der schützende Rahmen für dieses Zentrum wird von den Außenwänden und den Treppentürmen gebildet. Diese umgeben direkt die Bereiche der Emporen und des Chorumganges: Im Emporenbereich saß die Gemeinde, während sie den Lesungen und der Predigt folgte; dabei war die linke Seite den Männern und die rechte den Frauen vorbehalten. Ebenso nach Geschlechtern getrennt durchschritt die Gemeinde den Chorumgang, um bei der Abendmahlsfeier zum Tisch des Herrn zu gelangen.

Im Mittelschiff jedoch entfaltete sich – frei von Bänken – der vom »Himmel«, der Gewölbedecke, überspannte Raum, wo sich in der Feier des Sakraments die Ausgießung des Heiligen Geistes immer wieder neu ereignen konnte.

Die Länge und die Breite dieses inneren Raumes werden durch zwei längsliegende 30°-Dreiecke bestimmt, deren Bedeutung und Form der Leser schon kennt. Die beiden Dreiecke stoßen dort aufeinander, wo der große Kronleuchter hängt und ein mächtiger Eisenanker für den statischen Zusammenhalt der Fachwerkkonstruktion sorgt.

Der Kronleuchter ist ein Symbol des brennenden Dornbuschs, in dem sich nach 2. Mose 3,2 Gottvater dem Moses offenbarte.  indem er an dieser Stelle hängt, wird auf Gottvater dreifach verwiesen: Gott  als Mitte der Welt, Gott als Kraft,  die die Welt zusammenhält,  und Gott als Quelle, von der der Heilige Geist ausgeht. So wird es im Nicänischen Glaubensbekenntnis formuliert: »… et in spiritum sanctum, dominum et vivificantem, qui ex patre filioque procedit« (… und an den Heiligen Geist, Herrscher und Lebensspender, der vom Vater und vom Sohne ausgegangen ist).

Wie die Rückwand und die Altarseite »per Geometrie« mit dem Wirken des Heiligen Geistes in Verbindung gebracht sind, kann aus den entsprechenden Zeichnungen weiter oben abgelesen werden.  Darüber hinaus sind auch die seitlichen Pfostenreihen mit den Emporenbrüstungen mit Hilfe des »Dreiecks des Heiligen Geistes« konzipiert: Jeweils drei Deckenkassetten fallen in der Breite mit zwei Pfosten- abständen zusammen. Dieser doppelte Pfostenabstand bildet, gemessen von Pfostenmitte zu Pfostenmitte, die Grundseite eines 30°-Dreieckes, dessen Spitze mit dem Scheitel des Deckengewölbes zusammenfällt. Wählt man als Grundseite für das Dreieck einen einzelnen Pfostenabstand, zeigt die Dreiecksspitze auf die Oberkante der Emporenbrüstung. Als drittes Beispiel sei ein Dreieck genannt, dessen Grundseite auf der Höhe der im Holz ausgearbeiteten Pfostensockel von Außenkante zu Außenkante verläuft und dessen Spitze die Unterkante der geschnitzten »Gehänge« oberhalb der unteren Empore festlegt.

Für die Lage der Empore selbst, also für den Raumbereich, in dem die Sitze für die Gemeinde untergebracht waren, wurde ein anderes Dreieck, eines mit einem 45°-Winkel an der Spitze, als Ausgangsfigur für die Bemessung benutzt. Also wurde genau zwischen dem »heiligen Land« des Mittelschiffs und dem eher weltlichen Bereich unterschieden, wo die Gemeindeglieder in all ihrer Unvollkommenheit versammelt waren, solange sie nicht unmittelbar am Sakrament teilnahmen.

DIE ERWEITERUNG DER KIRCHE 1689–91

Mit äußerster Konsequenz den biblischen Aussagen folgend symbolisiert der Bau

  1. was die christliche Kirche meint, wenn sie vom »Heiligen Geist« spricht und
  2. welche Wirkung und Bedeutung er für den einzelnen Menschen und für die christliche Gemeinde hat.

Auf fünferlei Weise wurde dies Besuchern und Benutzern der Kirche sinnlich erfahrbar gemacht:

  1. Durch die Form und Ausgestaltung des Raumes, in dem sich der Besucher bewegt: Der Baukörper der Kirche bildet auf dem Marktplatz (dem Raum der behördlichen und materiellen Versorgung) das Zentrum. In der Kirche bildet der überwölbte Innenraum zwischen den Emporen das durch den Kronleuchter geheiligte Zentrum [2. Mose 3, 2– 5]. Als Raum für die Feier des Sakraments dient es den Belangen der Seele. Nur auf und unter den Emporen standen Kirchenstühle, im Innenraum wurden Bänke erst im 19. Jahrhundert aufgestellt. Durch diese Anordnung kommt Matthäus 16, 26 zur Darstellung: »Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?«
  2. Durch die Geometrie, mit deren Hilfe die Abmessungen aller Teile harmonisch bestimmt und theologisch zugeordnet sind. »Aber du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.« [Weisheit 11,21] »Vom rechten Maß« [Markus 4,24]
  3. Die symbolischen Zahlen: zum Beispiel sieben Reihen der Kassetten an der Gewölbedecke, dem »Himmel«, entsprechen den sieben Gaben des Heiligen Geistes; sieben Pfosten und sieben Zwischenräume als »Wegstrecke« dorthin führen von Westen bis zum Kronleuchter, dem »brennenden Dornbusch«, wo sich nach 2. Mose 3,2–14 Gott  offenbart; »im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes« führen dann drei weitere »Stationen« zum Altarraum, wo das Abendmahl gefeiert wird.
  4. Die Formensprache der Schnitzereien, die in symbolischer Form die Erscheinungen der lebendigen Schöpfung veranschaulichen.
  5. Den geistlichen Inhalt der figürlichen Darstellungen (zum Beispiel "die Kreuzigung«,   »die Taufe« usw.). 

Man kann davon ausgehen, dass der Wortlaut der zugehörigen Bibeltexte durch die streng gehandhabte Pflicht zur Katechitisierung, aber auch durch eigene Lektüre sämtlichen Gemeindemitgliedern bekannt war. Das Kirchengebäude bot nun für alle dauernd die Möglichkeit, durch meditierende Betrachtung zu einer vertieften Er- kenntnis der geistigen Zusammenhänge zu gelangen.

Knapp fünfzig Jahre nach der Fertigstellung der Kirche (also um 1685) hatte die Bevölkerung Clausthals so stark zugenommen, dass es notwendig wurde, die Zahl der verfügbaren Plätze zu verdreifachen. Dafür durfte die symbolische Struktur des Gebäudes auf keinen Fall zerstört werden, denn man hielt sie für die wichtigste Aufgabe eines Kirchenbaus. Also musste ein Konzept gefunden werden, die diese einander wider- sprechenden Anforderungen zu erfüllen vermochte.

Einer Bestimmung in der Clausthaler Bergfreiheit von 1554 ist zu verdanken, dass für dieses Vorhaben der in seiner Zeit führende Baukünstler des Landes, der kurfürstlich- hannoversche Hofbaumeister Hierolamo Sartorio, vom Kurfürsten verpflichtet wurde, sich zu kümmern.

Sortorio lieferte einen Entwurf, der einerseits die gestalterische und symbolische Eigenart des vorgefundenen Baues in bewunderungswürdiger Weise wahrte, anderer- seits aber durchaus dem Zeitgeist verpflichtet war. Zum Beispiel zeigt sich dies in der Anordnung der Fenster. Vor allem offenbart sich in der Gestaltung des neuen Altarraumes ein Verständnis von Gemeinde, das sich gegenüber dem Urbau stark verändert hatte. Die von Sartorio vorgenommene Anordnung von Taufstein, Kanzel, Altar und Orgel in einer Reihe war neu und wurde – soweit wir wissen – in Clausthal zum ersten Male verwirklicht. Später wirkte diese Anordnung bis hin zum Bau der Dresdener Frauenkirche.